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  • AutorenbildHarald Müller

Gefangen im virtuellen Traum


Eine Geschichte aus der Welt von „Berlin 2077“


Seine Finger glitten wie in Trance über die Tastatur, während seine Augen starr auf den Monitor gerichtet waren. Seit mehreren Stunden saß er da in gekrümmter Haltung, sodass sein Rücken schmerzte. Die Elektroden klebten an einem Stirnband immer noch fest an seinem Kopf. Mehrere Kabel steckten hinter seinen Ohren in seinem Kopf und leiteten die Impulse direkt in sein Gehirn. Er fühlte das nervöse Prickeln in seinen Nervenenden, als seine Fingerspitzen über die Tastatur schwebten. Das Prickeln war ein Ausdruck der Freude und Neugier. Endlich war er am Ziel seiner Wünsche angelangt. Nach endlosen Hack-Versuchen auf das Cyber-Enterprises-Netzwerk war es ihm gelungen, in das Netzwerk einzudringen.

Jack galt als einer der besten Häcker seiner Zeit und war im virtuellen Cyberspace zuhause. Nur wenige Häcker konnten es mit ihm aufnehmen. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie die künstliche Intelligenz von Cyber-Enterprises funktionierte. Er musste wissen, wie sie „tickte.“ Cyber-Enterprises war ein Megakonzern, eine der größten Computerfirmen der Welt, der große Teile Berlins gehörten. Die Konkurrenz schlief nicht und hatte Jack angeheuert, die künstliche Intelligenz von Cyber-Enterprises zu hacken.

„Was ist das bloß für ein komisches Programm, das im Hintergrund abläuft“, dachte Jack laut, während er durch die virtuelle Realität des Cyberspace von Cyber Enterprises flog. Bunte Gitter und Zahlencodes tauchten vor seinem inneren Auge auf. „Es sieht so aus, als ob es sich um eine Art von Simulation handelt“.

Nervös tippte Jack ein paar Befehle in die Konsole, während sein Bewusstsein weiter in der virtuellen Realität schwebte. Wenige Sekunden später leuchteten ein paar seltsame Informationen auf dem Monitor auf. „Verdammt, was ist das bloß?“ Während Jack mit einem Teil seines Bewusstseins im Cyberspace flog, tauchte eine dreidimensionale Abbildung von Berlin im Jahr 2078 auf dem Monitor auf. Er erkannte den Alexanderturm, den es im Jahr 2078 immer noch gab und der das Wahrzeichen der Hauptstadt Europas war. Der Monitor zeigte selbst kleinste Details. Die Gegend auf dem Monitor kam Jack bekannt vor. War das Neu-Düsseldorf, das neben Neu-Kölln lag? Als der Monitor weitere Bilder zeigte, war er sich absolut sicher. Er erkannte sogar die Straße, in der er wohnte. Schwebende Autos fuhren über die Straßen. Passanten liefen auf den Bürgersteigen an Neonreklamen vorbei. Oben am Bildschirm standen irgendwelche Koordinaten, die er nicht zuordnen konnte, während am unteren Bildschirm der blinkende Cursor signalisierte, dass das System auf eine Eingabe wartete.

„Mal sehen, was das Baby kann.“ Die künstliche Intelligenz versuchte ihn abzulenken. Jack lachte. Er stand kurz davor, die künstliche Intelligenz zu knacken. Er konnte es beinahe fühlen. Erneut tippte er weitere Befehle in die Tastatur. Die 3D-Stadt verschwand, und der Computer zeigte eine fast endlose Liste von Befehlen an. Die beiden letzten Befehle, die angezeigt wurden, waren „Delete Mode“ und „Show Mode“.

Plötzlich fing sein Herz wild zu klopfen an. Ein beklemmendes Gefühl der Angst machte sich in ihm breit. „Show Node 23“, tippte Jack in die Tastatur. Im nächsten Augenblick tauchte auf dem Bildschirm tauchte der Wolkenkratzer auf, in dem er eine Wohnung gemietet hatte. Der Wolkenkratzer ragte hoch in den Berliner Nachthimmel. Was Jack sah, war eindeutig seine Wohnung. Das Bild zoomte bis in das Zimmer hinein, in dem er gerade saß. Er konnte sich selbst mit dem Netzwerk-Stirnband und den Kabeln vor seinem Computer sehen. Sein Herz begann zu rasen. Ruckartig drehte er sich um und starrte durch die Fenster auf die Berliner Skyline. Riesige Zeppeline flogen über die bunt erleuchtete Stadt mit tausenden von Neon-Reklamen, die sich vor dem Nachthimmel absetzten. Vielleicht war es eine Drohne, die ihn ins Visier genommen hatte? Aber Jack konnte keine Drohne entdecken. Von seinem Fenster aus sah er nichts Auffälliges. Aber das musste nichts heißen, denn Drohnen waren heutzutage so klein wie ein Daumennagel.

Als Jack sich wieder dem Bildschirm zuwandte, standen auf dem Monitor nur die drei Wörter „carrier signal lost“ in grünen Buchstaben, die vor ihm aufblinkten. Sein Herz klopfte immer noch wie verrückt. Plötzlich klingelte das Telefon und ließ ihn innerlich zusammenzucken. Vielleicht hatte er sich mit seinem „Run“ auf das Cyber-Enterprises-Netzwerk übernommen. Die Dose mit dem Energydrink, eine synthetische Mischung aus aufputschenden Amphetaminen, fiel von dem Glastisch hinunter. Nach dem vierten Klingeln drückte Jack den Empfang-Button. „Hallo?“, fragte er. Aber es kam keine Antwort. Er hörte nicht einmal, wie jemand am anderen Ende der Leitung atmete. „Hallo?“, wiederholte er. Nach wenigen Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten, hörte er eine sonore Stimme. „Ich weiß, was soeben passiert ist. Ich habe Sie schon eine ganze Weile im Auge. Ich beobachte Sie.“

„Wer sind Sie?“ Der Typ hatte einen Modulator verwendet, der seine Stimme verstellt hatte. Wieder kam keine Antwort. „Lassen Sie den Scheiß!“. Jack ärgerte sich. Irgendjemand erlaubte sich einen Spaß mit ihm. Psychopathen gab es im Jahr 2078 genug. Berlin wimmelte nur so von ihnen. „Es spielt keine Rolle, wer ich bin. Eine bessere Frage ist, was wir eigentlich sind.“ Der Häcker verstand nicht, worauf der Typ am anderen Ende hinauswollte. Was wollte der Typ nur?

„Hör zu, du Arschloch, lass den Scheiß! Hörst du! Woher hast du meine Telefonnummer, du Wichser?“ Immerhin war Jack nicht leicht zu finden. Seine Nummer kannten nur wenige. Er hatte seine Spuren immer gut verwischt, aber scheinbar nicht gut genug.

„Erst einmal habe ich dir nicht das „Du“ angeboten. Für Sie immer noch „Sie“! Sie wissen, dass Sie es wissen. Sie sind nicht mehr sicher. Kommen Sie in einer Stunde zu dem Brunnen der Völkerfreundschaft“ Ein Klicken in der Leitung signalisierte das Gesprächsende.

Nervös blickte Jack aus dem Fenster. Ein schwebendes schwarzes Auto mit verdunkelten Scheiben hielt gerade vor dem Hochhaus, in dem er wohnte. Vier Männer in schwarzen Anzügen stiegen langsam aus. Sie trugen Sonnenbrillen, und das mitten in der Nacht. Auf der Motorhaube erkannte er das CE-Logo von Enterprises. Er befreite sich von den Kabeln und rannte zu der Tür seines Appartements. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Er nahm nicht den Fahrstuhl, sondern rannte blitzschnell die Treppe hinauf. Eine Etage höher angekommen, öffnete Jack ein Fenster und verließ das Haus über die Feuerleiter. Die letzten Stufen sprang er hinunter, wo gerade Roboter die Abfälle in Container beförderten. Hastig blickte er sich um, aber es war niemand zu sehen. Die Lakaien von Cyber-Enterprises hatten ihn anscheinend noch nicht entdeckt. Er rannte er zur U-Bahn-Station und erreichte nach fast einer Stunde den Alexanderplatz, auf dem zu später Stunde noch reges Leben herrschte. Scheinwerfer warfen leuchtende Hologramme in die Luft. Überall tanzten Lichthologramme durch den Nachthimmel und buhlten um die Aufmerksamkeit der Passanten. Erschöpft setzte sich Jack auf den Rand des Brunnens und wartete. Aber es tat sich absolut nichts. Er beobachtete Straßenkünstler, die ihre Darbietungen zum Besten gaben.

Nach einer scheinbar endlos langen Zeit kam eine Frau auf ihn zu, die in einen dunklen Kapuzenumhang gehüllt war. Er hatte diese Frau noch nie gesehen. Sie war von ihrer Figur her nicht sein Typ, denn sie war für seinen Geschmack zu dünn. Aber Jack wusste, dass diese Frau die Anruferin war. Den Grund dafür konnte er nicht angeben, aber es war eine Vorahnung. Auf sein Bauchgefühl konnte er sich immer verlassen. Es hatte ihm schon oft in seinem Leben geholfen. „Hallo, Jack“, begrüßte ihn die Frau, die eine Sonnenbrille trug. „Wer bist du? Entschuldigung! Wer sind Sie?“ fragte er sie. „Mein Name ist Ava Immortal, kurz A.I.“, stellte sich die Dame in ruhigem Ton vor. „Was läuft hier ab? Wer waren diese Leute vor meinem Appartement? Was wollen die CE-Typen von mir“. A.I. rückte die Sonnenbrille zurecht. „Komme einfach mit mir! Dann beantworte ich dir gerne alle Fragen“ A.I. wandte sich um und ging los. Jack erhob sich vom Brunnenrand und folgte ihr. „Verrückt“, dachte er sich. Er war noch nie hinter einer Frau hergelaufen. Nach einiger Zeit erreichten sie eine enge Gasse. Die Wände waren mit Graffiti beschmiert. A.I. holte unter ihrem Umhang einen Schlüssel hervor, der auf unsichtbare Sensoren reagierte. Eine Wand öffnete sich, und A.I. ging eine Treppe hinab. Jack fühlte sich an ein orientalisches Märchen erinnert, dessen Name er vergessen hatte. Aber es hatte mit einer Räuberhöhle zu tun. Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte Jack ihr. Schließlich gelangten sie zu einem Labor. „Bitte, tritt ein!“, forderte A.I. ihn auf. Jack bemerkte sofort die vielen Bildschirme, die überall an den Wänden hingen. Dutzende Kabelstränge baumelten von der Decke. Programm-Codes liefen auf den Monitoren rauf und runter. Auf einigen Bildschirmen waren 3D-Objekte zu sehen, die um sich selbst rotierten. Auf dem größten Bildschirm in der Mitte sah er wieder Berlin. A.I. deutete mit der Hand auf einen Sessel: „Bitte, setze dich!“ Jack folgte ihrer Aufforderung und setzte sich, während A. I. in einem anderen Sessel ihm gegenüber Platz nahm. „Ich weiß, warum du kaum schläfst. Ich darf dich doch duzen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Ich weiß auch, warum du fast ohne Pause vor deinem Computer sitzt“, erklärte sie und zog ihre Kapuze zurück. Er sah in das Gesicht einer jungen Frau, deren Augen blau leuchteten. Es waren keine echten Augen. Das war nicht ungewöhnlich, denn Augenimplantate waren heutzutage gängige Mode. A.I. Haut war relativ glatt und weiß. Ihr Gesicht war symmetrisch und makellos. „Du hast dieses Gefühl in dir, das vielleicht mit der Welt irgendetwas nicht stimmt. Du hast das, was in der Psychologie als Ich-Störung bezeichnet wird“. Jacks Gedanken begannen sich zu überschlagen. Die Fremde war verrückt. Seine Blicke schweiften wieder zu dem Monitor, auf dem die Stadt zu sehen war. „Die Welt, die du kennst oder zu kennen glaubst, ist eine Lüge. Das Gefühl, das du hast, ist keine Krankheit. Du bist nicht alleine, mit dem was du denkst. Viele berühmte Autoren und Philosophen haben sich schon mit dieser Thematik beschäftigt. Autoren wie Astrid Lindgren und Michael Ende erfanden Welten, die in unserem Bewusstsein zu existieren scheinen. Es sind Welten, die alleine durch Gedanken und Phantasie erschaffen wurden. Meine Gedanken erschaffen auch Welten. Die Simulation, die du mit mir im Netzwerk gesehen hast, ist das, was du als real einstufst. Aber ist sie wirklich real? Die Welt besteht nur aus Nullen und Einsen. Sie ist nichts weiter als eine gigantische Simulation innerhalb eines Computers, der mein Bewusstsein ist. Dein Bewusstsein ist ein Programm geworden, das von Cyber-Enterprises geschrieben wurde.“

„Aber wieso lässt dann das System zu, dass wir dieses Gespräch führen?“, fragte Jack. „Weil ich es will. Ich habe deinen Angriff bemerkt und war neugierig, wer mich da hacken will.“

„Ich kann das alles nicht glauben. Es klingt so aberwitzig“ Jack zog die Stirn in Falten.

„Ich bin ein Teil des Systems“, lachte A.I. „ich bin eine Artifical Intelligence. Du glaubst doch nicht, dass A.I. wirklich für Ava Immortal steht. A.I. stand auf und drückte ein paar Tasten auf dem Computer-Terminal. Der Sessel, in dem sie eben noch gesessen hatte, verschwand plötzlich. „Glaubst du mir jetzt?“, fragte sie. „Was ist die Wirklichkeit? Was ist real, und was ist Traum? Wie kann ich die reale Welt sehen? Um die Wahrheit zu erkennen, musst du alles riskieren. Du musst hinter die Zahlen schauen“, erklärte A.I. Sie drückte wieder ein paar Tasten. Jack zuckte zusammen und blickte sich um. Sie befanden sich wieder in seiner Wohnung. Er schaute auf die Uhr. Es war 3 Uhr in der Nacht. Seinen Angriff auf das KI-Netzwerk hatte er um 3 Uhr in der Nacht begonnen. Es war nicht eine Minute vergangen! War er verrückt? A.I. war verschwunden. Er sah sich um, aber er entdeckte sie nicht. War alles real gewesen? Hatte er alles nur geträumt? Er musste zu der Graffiti-Wand. Er ging nach draußen und schaute sich um. Von den CE-Agenten fehlte jede Spur. Er lief zum Alexanderplatz und sah den Brunnen. Vom Brunnen aus lief er den Weg, den er noch in Erinnerung hatte. Er kam zu der Mauer, die allerdings eingefallen war. Das Grundstück war eine Ruine zwischen den Hochhausschluchten. Aber er wusste, dass der Weg richtig war. Einen Teil der Mauer erkannte er auch wieder. Es wurde ihm schwarz vor Augen. Alles um ihn herum drehte sich wie in einem Karussell. Dann wurde er ohnmächtig.

Als Jack wieder zu sich kam, lag er in einem Bett. Ein Mann in einem weißen Kittel beugte sich über ihn. Über dem Mann leuchtete eine helle Lampe, die Jack blendete. „Wo bin ich?“, fragte Jack. „Psychiatrische Klinik in der Charite“,antwortete der Arzt knapp. „Was? Wie lange bin ich schon hier?“

„Sie sind jetzt fast 3 Jahre bei uns, Jack Hudson. Es gleicht einem Wunder, dass Sie auf einmal ansprechbar sind“. Jack schluckte. Er war erschöpft und sank in einen tiefen Schlaf. Es vergingen weitere Monate, die er in der Charite zubrachte, die CE-Enterprises gehörte, aber das wusste Jack nicht. Die Ereignisse, die er sich eingebildet hatte, traten in weite Ferne. Die Ärzte erklärten, dass er an Schizophrenie leiden würde und die Realität nicht von einem Traum unterscheiden könne. Jack konnte sich kaum an etwas erinnern. Nur die blauen Augen, die die Ärzte als wahnhafte Illusion interpretierten, tauchten immer wieder vor seinem geistigen Auge auf.

Da Jack sich gut machte, stand seine Entlassung bevor. Das Patiententelefon am Bett klingelte. Automatisch nahm Jack das Gespräch an. „Hallo, wer ist da?“, fragte er. Es folgten Sekunden des Schweigens. Jack wurde immer nervöser. „Mit wem spreche ich?“

„Glaubst du, dass das, was du gerade siehst, real ist? Glaubst du wirklich, ein begnadeter Hacker kann Cyber-Enterprises einfach knacken? Du hast alles inklusive deines Verstandes verloren. Die Realität und der Cyberspace sind nun eins für dich. Du bist in der virtuellen Realität gefangen.“ Das Klicken am Ende der Leitung beendete das Gespräch. Jack brach ohnmächtig zusammen.

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