Tarik wusste genau, was er tat, als er die Kobra aus dem Korb ließ.
Seit einigen Jahren führte er den Tanz mit der Schlange auf einem kleinen Marktplatz in einer indischen Kleinstadt in der Nähe von Jaipur auf. Zwar wurde Tarik damit nicht reich, aber es reichte, um seine Familie über Wasser zu halten. Schlangenbeschwörung hatte in seiner Familie eine lange Tradition, und er fühlte sich dieser Tradition verpflichtet. Sein Vater Ranjid und sein Großvater Amal hatten ihm alles beigebracht, was es über Schlangen zu lernen gab. Aus Altersgründen konnte sein Vater das Handwerk nicht mehr ausüben. Die Kobra, die Tarik für seine Auftritte benutzte, hatte er eigenhändig im Dschungel gefangen, so wie es auch schon sein Vater und sein Großvater gemacht hatten. Tarik verehrte Manasa, die indische Schlangengöttin. Die Kobra, mit der er immer auftrat, verfügte noch über ihre Giftzähne. Er hatte ihr die Giftdrüsen nicht entfernt, denn das hätte Manasa und die Ehre der Schlange beleidigt. Viele seiner Kollegen arbeiteten mit präparierten Schlangen, denen man die Giftdrüsen entfernt hatte. Aber Tarik wollte einen ehrlichen Auftritt. Wenn er seinen Zuschauern erzählte, wie gefährlich seine Schlange war, wollte Tarik nicht lügen. Hin und wieder kam es bei solchen Auftritten zu gefährlichen Zwischenfällen, die manchmal mit dem Tod eines Schlangenbeschwörers endeten. Sein Großvater war an einem Schlangenbiss gestorben. Auf sogenannten Schlangenfarmen wurden Kobras gemolken, so dass immer genug Antiserum gegen das Schlangengift vorhanden war. Eigentlich musste nun niemand am Gift der Kobra sterben. Das Problem lag vielmehr in der rechtzeitigen Beschaffung des Serums, denn die Wege und Straßen in Indien waren alles andere als gut. Bis man das Krankenhaus erreicht hatte, war es oft zu spät.
Während sich alle Familienmitglieder für den Lebensunterhalt arbeiteten, war Tariks Bruder Jamal alles andere als fleißig und lebte in den Tag hinein. Jamal war modern eingestellt, besaß ein Handy und hatte für die Verehrung der Manasa und der Schlangen nichts übrig. Oft machte er sich über den Schlangenkult lustig. Seine Faulheit führte immer wieder zu Spannungen in der Familie. Erst vor kurzem hatte Tarik sich mit seinem Bruder ein heftiges Wortgefecht geliefert. Jamal beneidete Tarik, weil sein älterer Bruder vom Vater bevorzugt wurde. Jamal fühlte sich gedemütigt und wollte es seinem Bruder einmal richtig heimzahlen. Von einem Busch im Dschungel schnitt Jamal ein paar Blätter ab und trocknete sie in der Sonne. Als die Blätter trocken waren, zerrieb er sie zu einem feinen Staub. Dieser Staub hatte die Eigenschaft, dass er bei Berührung mit der Haut fürchterlich brannte. Heimlich schüttete Jamal das Pulver in den Schlangenkorb, den sein Bruder für seine Auftritte verwendete. Dieses Mal würde die Kobra richtig tanzen.
Am nächsten Tag nahm das Unheil seinen Lauf. Tarik hatte die gut zwei Meter lange Kobra in den Korb gelegt und war auf dem Weg zum Marktplatz, um seinen Auftritt vorzubereiten. Als sich bereits eine kleine Menschenmenge um Tarik versammelt hatte, begann er auf seiner Flöte zu spielen und öffnete den Korb.
Die Kobra schoss blitzschnell aus dem Korb heraus. Niemand auf dem Platz war von der Reaktion der Schlange so überrascht wie Tarik selbst. Er hatte die Kobra noch nie so wütend gesehen. Eine Stunde in dem Korb hatte ausgereicht, um die sonst ruhige Schlange in eine wütende Bestie zu verwandeln. Das geschundene Tier fing sofort an, die umstehenden Menschen zu attackieren. Da alle Besucher einen respektvollen Abstand hielten, griff die Schlange Tarik an. Sie erwischte ihn am Bein und pumpte ihr Gift in die Wunde. Vor dem nächsten Angriff konnte sich Tarik sich gerade noch zur Seite werfen.
Sofort eilten andere Schlangenbeschwörer Tarik zur Hilfe. Während einer der Schlangenbeschwörer die wütende Schlange einfing, banden die anderen Tariks Bein ab, damit sich das Gift nicht weiter im Körper ausbreiten konnte. Unverzüglich machten sich Verwandte und Freunde daran, einen Wagen zu besorgen, der Tarik in das Krankenhaus von Jaipur bringen sollte. Nach ein paar Minuten hatten sie einen alten Jeep besorgt und machten sich sofort auf den Weg.
Jamal mimte den besorgten Bruder und bot sich als Fahrer an. Tarik und ein befreundeter Schlangenbeschwörer stiegen ein, und sie fuhren los. Zum Glück hatte die Regenzeit noch nicht eingesetzt, und die Straßen waren recht gut befahrbar.
Nach fast einer Stunde erreichten sie das Hospital. Während der Fahrt verschlechterte sich Tariks Zustand zusehends Sie erreichten gerade noch rechtzeitig das Krankenhaus, wo man Tarik sofort das Antiserum spritzte. Tarik musste einige Tage im Krankenhaus bleiben.
Jamal und der befreundete Schlangenbeschwörer machten sich auf den Rückweg ins Dorf. Als sie das Dorf fast erreicht hatten, setzte plötzlich ein starker Wind ein. Ein großer Ast stürzte vor ihnen auf die Straße und zwang Jamal zu einer Vollbremsung. Jamal und der Beifahrer stiegen aus, um das Hindernis zu beseitigen. Erst jetzt erkannte Jamal, dass sich eine Schlange um den Ast gewunden hatte. Kaum dass die Schlange Jamal erblickt hatte, kam auf sie sofort auf ihn zu gekrochen. Erschrocken machte Jamal einen Schritt rückwärts und rutschte dabei aus. Erl schlug mit dem Kopf auf einen Stein und blieb bewusstlos am Boden liegen. Von einem auf den anderen Augenblick war die Schlange verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Sofort eilte der Begleiter herbei und verband Jamal notdürftig die stark blutende Wunde. Mit aller Kraft legte er den bewusstlosen Jamal in den Wagen und fuhr eilig zurück ins Krankenhaus, aber da war es schon zu spät. Wie sich später herausstellte, war Jamal an einer Blutung im Kopf gestorben.
Tarik erholte sich schnell. Nach einer Woche ging es ihm besser, und er konnte das Krankenhaus verlassen. Tarik wollte wieder arbeiten. Er packte wie immer die Kobra in den Schlangenkorb und machte sich auf den Weg, um mit der Schlange zu tanzen.
Ende
Zu der Geschichte hat mich ein Abenteuerfilm inspiert. Ich hoffe, die Geschichte hat Euch gefallen?
Comments