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AutorenbildHarald Müller

Das Schwert des Mondes

Eine Fantasy-Kurzgeschichte aus dem "Reich des Himmels"

Es bereitete Asari einige Probleme, mit seinem älteren Bruder mitzuhalten. Kenji und seine Krieger rannten so schnell durch den Wald, dass Asari kaum hinterherkam. Äste peitschten sein Gesicht. Aber Asari lief hinter seinem Bruder her, so schnell er konnte. Die Zeit drängte. Sie mussten unbedingt rechtzeitig die Lichtung erreichen, bevor es zu spät war. Langsam merkte Asari, wie seine Kräfte nachließen. Obwohl die Luft in seinen Lungen zusehends knapp wurde, sprintete er weiter hinter seinem Bruder her. Er durfte auf keinen Fall den Anschluss verlieren.

Wenn Asari dieses Ereignis verpassen würde, würde er sich das nie im Leben verzeihen. Das Ziel seines Bruders und seiner Samurai war der heilige Schrein, in dem das legendäre Tsuki no ken, das Schwert des Mondes, verborgen sein sollte. Dieses Zauberschwert sollte unglaubliche Kräfte besitzen, solange sein Träger es für einen guten Zweck einsetzte.

Auch wenn Asari bezweifelte, dass sein Bruder das Schwert in die Hände bekommen würde, so wollte er doch das sagenumwogene Schwert mit eigenen Augen sehen. Der Griff des Schwertes sollte mit Juwelen verziert sein. Wenn das Licht des Mondes auf die Klinge fiel, sollte das Schwert im Mondschein erstrahlen. Nichts konnte sich dieser Klinge widersetzen, denn das Schwert enthielt die Kraft des Mondgottes Tsukuyomi.

Kenji wusste nicht, dass Asari ihm heimlich gefolgt war. Schließlich hatte Kenji Asari verboten, ihn auf dieser gefahrvollen Reise zu begleiten. Asari war durchaus ein fähiger Samurai, aber die Suche nach dem Schwert war sehr gefährlich. Sie würden nicht die einzigen Elfen sein, die die Gelegenheit ergreifen würden, um an die magische Waffe zu gelangen. Nach der Legende konnte man das Schwert nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinen Besitz bringen. Die erste Vollmondnacht des Frühlings im Jahr des Drachen war gekommen. Nur in dieser Nacht würde der Schrein im Mondlicht erscheinen.

Asari klebten die Haare schweißnass an seiner Stirn. Sein Bruder und dessen Samurai verlangsamten ihr Tempo, so dass Asari aufatmen konnte. Der Weg war länger, als er gedacht hatte. Asari befand sich am Ende seiner Kraft. Es fiel ihm schwer, dem Gemurmel der Männer zu lauschen. Seine zwei Herzen hämmerten laut gegen seine Brust. Adrenalin floss durch seine Adern. Im Schutz der Bäume konnte er zu Kenji aufschließen. Bis jetzt hatte ihn noch niemand bemerkt, wofür Asari den Göttern dankte. Da überall Nebel aus dem Boden aufstieg, konnte Asari nicht viel von der Lichtung erkennen. Aber er sah Gestalten am anderen Ende der Lichtung. Sie waren also nicht allein. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Ohne Erfolg versuchte er, den Schrein zu entdecken. Das war aus der Deckung heraus nicht so einfach. Von hier unten aus hatte er schlechte Sicht. Daher beschloss Asari, einen Baum hinaufzuklettern. Eine Drossel flog krächzend fort, aber niemand der anwesenden Elfen beachtete den Vogel. Alle Elfen konzentrierten sich auf die neblige Lichtung. Bald würde das mysteriöse Schauspiel beginnen.

Das Mondlicht fiel auf einen Hügel in der Mitte der Lichtung. Ein starker Wind blies den Nebel fort, als würde der Mondgott selbst den nebeligen Vorhang wegziehen und den Schrein enthüllen, der mitten auf dem Hügel stand. Als Asari das Schwert in dem Schrein erblickte, setzte sein Herzschlag für einen Augenblick aus. Der Anblick des Schwertes, das im Mondlicht strahlte, zog ihn in seinen Bann. Die Aura des Schwertes war beängstigend und anziehend zugleich. Das Schwert funkelte mit den Sternen um die Wette. Der geschwungene Griff, der durchsichtig wie Glas war, mündete in einer Klinge, die im Licht geisterhafter Fackeln gespenstisch leuchtete. Auf der Breitseite waren Schriftzeichen eingraviert, die Asari allerdings nicht erkennen konnte. Der Legende nach waren dort die Zeichen für Stolz, Güte und Ehre eingraviert. Das waren auch die Eigenschaften, die den Elfenkaiser beschrieben, der mit diesem Schwert gegen die Finsternis gekämpft hatte. Als der Elfenkaiser den Dämonenkönig der Finsternis getötet hatte, wollte der Elfenkaiser, dass die Macht des Schwertes niemals in falsche Hände geraten sollte. Deshalb belegte er das Schwert mit einem magischen Bann und bannte die Klinge in den Schrein des Mondes. Nur ein elfischer Krieger mit Edelmut und reinem Herzens sollte das Schwert besitzen, wenn der Mond alle tausend Jahre im Zeichen des Drachen auf die Lichtung schien. War ein solcher Krieger unter diesen Männern?

Still und stetig plätscherte der Bach dahin, der um den Schrein floss, als ob der Bach die Antwort auf die Frage wissen würde. Asari riss sich von dem Anblick des Schwertes los und betrachtete den Schauplatz genauer. Das Tal wurde von Bergen umsäumt. Um die Lichtung herum wuchs dichter Wald, in dem Feen und Waldgeister hausen sollten, von denen allerdings jede Spur fehlte. Über das Wasser sollten Mondfeen tanzen, aber die Mondfeen hatten sich anscheinend verzogen. Man hörte nur das Raunen des Windes und das Rasseln der Blätter. Es schien, als hätten sich die Waldgeister absichtlich zurückgezogen und würden auf den Helden warten.

Am Waldrand lauerten verschiedene Gruppen. An ihren Rüstungen erkannte Asari die Elfen des Clans der Drachen. Die Helme, die die Samurai trugen, waren Drachenköpfen nachempfunden. In den klobigen Rüstungen machten die Drachenelfen einen imposanten Eindruck. Eine weitere Gruppe trat aus dem Wald. Diese Samurai trugen ein Schlangenemblem auf ihren Helmen. Sie gehörten demnach dem Clan der Schlangenelfen an. Besorgt sah Asari zu Kenji, seinem Bruder, dessen Hand auf seinem Schwertgriff lag. Bis jetzt hatte noch niemand das magische Schwert berührt. Jeder lauerte darauf, aber niemand wagte den ersten Schritt. Asaris Blick schweifte zu Kenji. War sein Bruder reinen Herzens und ehrenhaft genug, das Schwert an sich zu nehmen? Seufzend schloss Asari die Augen. Kenji war ein tapferer Krieger. Ob das Herz seines Bruders rein war, konnte Asari nicht sagen.

Plötzlich verstummte das Gemurmel. Asari schreckte auf und sah den Grund für die Unterbrechung. Ein Elf aus dem Clan der Drachen, der eine rote Rüstung trug, war hervorgetreten und hob beide Arme, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Als würde die Lichtung einen tiefen Atemzug nehmen, warteten alle auf die Worte des Drachensamurai. Den Drachenhelm hatte er abgenommen. Sein schwarzer Umhang flatterte im Wind, der mit den weißen Haaren des Elfen spielte. Mit lauter Stimme rief der Drachensamurai: „Hört mich an! Unterlasst alle Versuche, das Schwert aus dem Schrein zu ziehen! Es wird Euch sowieso nicht gelingen. Das Schwert gehört uns, dem Drachen-Clan, weil wir die Tapfersten unter den Elfen-Clans sind. In unseren Adern fließen das Blut und die Kraft des Drachen. Wenn Ihr meiner Bitte nachkommt und die Lichtung verlasst, wird Euch nichts geschehen. Darauf habt Ihr mein Wort. Wenn Ihr aber doch versuchen solltet, das Schwert an Euch zu nehmen, wird Euch der Zorn des Drachen treffen. Der Drache verzeiht nichts.“ Seine Worte erfüllten die Luft. Die Atmosphäre änderte sich augenblicklich. Eine eisige Spannung, die fast greifbar war, lag in der Luft. Es knisterte.

Mit langsamen Schritten und ohne Hast schritt der Drachenelf auf den Schrein zu, während seine Samurai ihm den Rücken freihielten. Zielstrebig streckte der Drachenelf die Hand nach dem Schwert aus. Doch bevor er das Zauberschwert berühren konnte, zischte ein Pfeil durch die Luft und traf den Krieger in den Hals. Mit einem gurgelnden Schrei ging der Elf zu Boden. Der Pfeil ragte aus dem Hals des Kriegers.

Asari presste die Hände gegen seinen Mund, um nicht laut aufzuschreien. Er hatte schon in vielen Schlachten gekämpft und schon viele Samurai sterben sehen. Doch dass die Schlangenelfen den Drachensamurai von weitem mit einem Pfeil getötet hatten, schockierte ihn. So hinterrücks agierten nur Meuchelmörder vom Schlangen-Clan. „Bogenschützen“, knurrte sein Bruder Kenji. Die anderen Samurai stimmten ihm zu. Von allen Seiten ertönten Kampfschreie. Die Krieger der verschiedenen Clans stürmten aufeinander los. Schwerter prallten auf Schwerter. Die Klingen wurden in Blut getränkt. Schmerzens – und Todesschreie hallten über das Tal. Die Luft war vom Geruch nach Blut und Schweiß erfüllt. Während die Schlacht tobte, versuchten einzelne Samurai, zu dem Schwert zu gelangen. Doch niemand schaffte es. Die Pfeile der Männer des Schlangen-Clans durchbohrten die Samurai, bevor sie das Mondschwert erreichten. Obwohl Asari von dem Geschehen weit entfernt war, sah er die hBlicke der Samurai, wenn sie von den Pfeilen durchbohrt wurden und ihr Leben aushauchten. Der Ausgang der Schlacht war offensichtlich. Die Bogenschützen der Schlangenelfen entschieden über Sieg und Niederlage. In Asaris Augen waren die Schlangenelfen feige Heuchler, die sich einem ehrlichen Zweikampf nicht stellten.

Asari ertrug den Anblick des Kampfes nicht länger. Die Hälfte der Samurai seines Bruders war bereits gefallen. Mit einem Satz sprang Asari vom Baum herab und rannte auf den Schrein zu. Die Bogenschützen des Schlangen-Clans hatten ihn augenscheinlich noch nicht bemerkt und feuerten eine weitere Salve auf die Drachenelfen ab. Asari wollte das Schwert zerstören, bevor es weitere unschuldige Leben forderte. Er konnte dem Tod der Kameraden nicht tatenlos zusehen. Als er sich umblickte, sah er, dass die Schlangenelfen auf ihn zielten. Die Pfeilspitzen zeigten auf Asari. Asari lief, so schnell er konnte, und bereitete sich auf den Pfeilhagel vor. Mit weiten Sprüngen schaffte er es, den Pfeilen auszuweichen, und erreichte den Schrein. Im Lauf packte er den Schwertgriff. Seine Herzen setzten aus, als er das Schwert in seiner Hand hielt. Fassungslos starrte Asari auf das Schwert, das er mühelos aus dem Schrein gezogen hatte. Alle übrigen Elfen sahen gebannt auf Asari, wie er das Mondschwert in die Höhe hielt

„Asari“, rief Kenji über das Schlachtfeld. Während Asari in das blutbespritze Gesicht seines Bruders sah, wurde er von einem Pfeil getroffen, der seinen Brustkorb durchbohrte. Doch Asari verspürte keinen Schmerz. Ein ganz besonderes Gefühl flammte in ihm auf, das alle anderen Gefühle verdrängte. Er war von einem Kampfgeist erfüllt, den er nie zuvor gekannt hatte. Ungezügelte Energie durchströmte seinen Körper. Mit nahezu unglaublicher Geschwindigkeit sprintete Asari auf die Bogenschützen zu, hieb mit dem Schwert auf sie ein und schlug ihre Körper entzwei. Asari überließ sich ganz dem Willen des Schwertes, das ihn führte wie ein Puppenspieler seine Marionetten. Das Schwert steuerte seine Bewegungen. Er war selbst so schnell wie ein Pfeil. In Sekundenbruchteilen erreichte er seinen nächsten Gegner, der nicht einmal merkte, dass Asari hinter ihm stand und sein Schicksal besiegelte. Blut spritzte auf Asaris Gewand, während sein Schwert sich mühelos durch die Gegner mähte. Seine Feinde stürzten sich auf ihn, um ihn das Schwert zu entreißen. Mühelos wich er ihren Angriffen aus. Mit einem markerschütternden Schrei attackierte er die nächsten Gegner. Seine Bewegungen waren fließend wie das Wasser des Bachs. Es schien, als wäre Asari eine Inkarnation von Bishamon, dem elfischen Kriegsgott. Alle Gegner fielen dem Zauberschwert zum Opfer. Inmitten des Massakers ergriff ein Kämpfer den Bogen eines toten Schützen und zielte auf Asari. Der Pfeil schnellte von der Sehne und traf Asari mitten in den Rücken. Mit einem Sprung stürzte sich Asari auf den Bogenschützen und enthauptete ihn.

„Asari, was tust du hier?“, drang Kenjis Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm. Voller Entsetzen starrte Kenji auf den Pfeil im Rücken seines Bruders. Tränen sammelten sich in Kenjis Augen. Der Pfeil hatte die Herzen seines Bruders zwar verfehlt, doch große Mengen an Blut strömten aus der Wunde. Auch wenn Asaris Kleidung vom Blut der Feinde getränkt war, so stammte der größte Teil des Blutes jedoch von ihm selbst. Kenji war zuversichtlich, dass die elfischen Priestern seinen Bruder mit ihrer Magie retten konnten.

Doch es war eine trügerische Hoffnung. Unvermittelt musste Kenji in diesem Augenblick an Gift denken. Er wusste, dass die Schlangenelfen Giftpfeile benutzten. Asari spuckte Blut und sank kraftlos zu Boden. „Diese Hunde sind nicht nur feige und kämpfen aus dem Hinterhalt. Falls wir die Verletzungen durch ihre Pfeile überleben sollten, wollten die Schlangenelfen sicher gehen, dass wir ihnen nicht entkommen.“ Kenjis gebrochene Stimme hallte über die Lichtung. Voller Sorge und Trauer schauten die Elfen auf Asari. „Ich habe versagt“, stöhnte Asari mit kaum hörbarer Stimme, die vom Wind fortgetragen wurde. Mit zitternden Armen hielt er Kenji das Schwert hin. Dabei fiel Kenjis Blick auf das Zeichen Yuuki – Mut.

Was dann geschah, ließ die Elfen auf der Lichtung erstarren. Asari hauchte sein Leben nicht klanglos aus. Das Schwert leuchtete auf und zerfiel in tausend Kirschblüten, die über die Lichtung flogen. Auch Asaris Körper zerfiel in tausende Kirschblüten, die der Wind davontrug. So wie die Kirschblüten über die Lichtung wehten, so flossen die Tränen der Samurai. Das Rauschen des Flusses mischte sich mit ihren Klagerufen. Kenji drückte eine Kirschblüte in seiner Hand zusammen und hielt sie an seine Brust gepresst.


ENDE


Wenn Euch die Geschichte gefallen hat und Ihr mehr über das Reich des Himmels lesen möchtet, dann empfehle ich Euch meine Buchserie:


Zorn der Sonne, ISBN: 9783750282766

Der Tanz des Drachen, ISBN: 9783750271357

Kinder des Himmels, ISBN: 9783748575504


Die Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.

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